05.07.2024
„Wir müssen uns die Frage stellen, wie Kreuzfahrttourismus in der Zukunft aussehen soll.“
Er erforscht ein Feld, das für andere Menschen Erholung bedeutet:
Prof. Dr. Dr. Alexis Papathanassis ist einer der international meistzitierten Experten für Tourismusforschung. Für ihn steht fest: Die Forschung kann dazu beitragen, den Tourismus fit für die Nachhaltigkeitsziele 2050 zu machen – wenn sie immer einen Schritt voraus ist.
Ferienzeit ist Reisezeit. Ob Pauschalreise in die Karibik oder im Wohnmobil an den Ostseestrand: Das Bedürfnis der Deutschen nach Erholung außerhalb der eigenen vier Wände ist ungebrochen. Im vergangenen Jahr haben sie laut einer repräsentativen Reiseanalyse fast 87 Milliarden Euro für Urlaub ausgegeben. 70 Prozent der Reisen gingen ins Ausland, am häufigsten nach Spanien, Italien, in die Türkei, nach Kroatien oder Griechenland. Doch auch Deutschland erfreut sich großer Beliebtheit bei Reisenden: Prognosen zufolge könnte 2024 ein Rekordjahr für den Tourismus im Land werden.
Doch Tourismus kann auch Schattenseiten haben. Korruption, Ausbeutung von Menschen und Zerstörung der Natur sind nur einige Beispiele. Damit die positiven Auswirkungen überwiegen, müsste die Branche an manchen Stellen mehr Verantwortung übernehmen. Prof. Dr. Dr. Alexis Papathanassis beschäftigt sich seit fast zwanzig Jahren in seiner Forschung mit dem Tourismussektor. Er sagt: „Die Wissenschaft kann und soll dabei helfen, Tourismus zu steuern und Probleme wie Massentourismus zu bekämpfen. Forschung ist nicht nur ‚verstehen und analysieren‘, sondern auch ‚neu gestalten und inspirieren.“
Tourismus – ein unterschätzter Wirtschaftssektor?
Die Corona-Pandemie führte die Tourismusbranche 2020 in eine schwere Krise. Allein in Deutschland verzeichnete sie Umsatzeinbußen in Höhe von rund 68,7 Milliarden Euro. Expert:innen prognostizierten schwerwiegende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, weil der Tourismussektor rund zehn Prozent der globalen Wirtschaftsleistung ausmache. Vier Jahre später hat sich die Branche wieder größtenteils erholt. „Der Tourismus ist außerordentlich krisensicher, weil Reisen für viele Menschen ein Grundbedürfnis geworden ist. Für die Kreuzfahrtbranche erwarten wir 2024 sogar ein neues Rekordjahr, was die Umsätze angeht“, sagt Prof. Papathanassis.
Wer jedoch den ökonomischen Nutzen des Tourismus nur auf die Ausgaben der Urlauber:innen bezieht, unterschätze den tatsächlichen Beitrag. In Bezug auf Kreuzfahrttourismus hat Experte Papathanassis das Geschäftsmodell analysiert. „Nur 23 Prozent der ökonomischen Effekte gehen tatsächlich auf die Ausgaben von Gästen und der Crew zurück. Die Liegegebühren in den Häfen, die Kosten für die Betankung und weitere Ausgaben der Reedereien machen 42 Prozent der gesamten Wertschöpfung aus. Der Schiffsbau hat einen Anteil von 26 Prozent, 9 Prozent entfallen auf die Löhne der Mitarbeitenden. Das bedeutet, dass rund zwei Drittel der ökonomischen Effekte auf den B2B-Bereich zurückgehen.“ Damit sei Tourismus genauso wichtig wie andere „typische deutsche“ Wirtschaftsbereiche.
All Inclusive ist nicht die beste Lösung
In vielen Ländern, besonders Entwicklungs- und Schwellenländern, leistet der Wirtschaftssektor einen wesentlichen Beitrag zum Wohlstand. Die Besonderheit: Das, womit sich im Tourismus Geld verdienen lässt, muss nicht erst produziert werden. Urlauber:innen besuchen die Länder, um die Kultur und Natur zu erleben. Beides ist bereits vorhanden und lässt sich mit geringem Aufwand wirtschaftlich nutzen. Damit Tourismus in den Urlaubsländern aber wirklich etwas Positives bewirken kann, sollte laut Prof. Dr. Alexis Papathanassis möglichst viel Geld bei den Einheimischen landen. Denn: „Wenn sie mehr Geld verdienen, dann machen sie selbst auch Urlaub. Davon haben dann wieder andere Menschen etwas.“ Auf diese Weise würde sich der ökonomische Effekt immer weitertragen.
Ein All-Inclusive-Urlaub mit Rundum-Sorglos-Paket sei daher nicht die optimale Lösung, wenn es um die Ökonomie im Reiseland geht, sagt der Tourismusexperte. Wer sich mit dem Shuttle zum Flieger und ins Hotel bringen lässt, sich ausschließlich auf der Hotelanlage aufhält und kein Geld in der lokalen Gastronomie ausgibt, weil das Buffet im Hotel im Preis enthalten ist, finanziert damit nur die großen, meist westlichen Unternehmen und Reiseveranstalter. Kleine Unternehmer:innen vor Ort profitieren nicht davon. „Obwohl die meisten Urlaubsreisen in den globalen Süden führen, zeigen sich die meisten wirtschaftlichen Effekte im globalen Norden. Möchte man positive Auswirkungen auf das Reiseland erzielen, so muss man die Reisen entsprechend so planen, dass alle davon profitieren“, sagt Prof. Papathanassis.
Potenzial für einen Tourismus, der die Wirtschaft im Reiseland stärkt, sieht der Tourismusexperte bei Kreuzfahrten. Diese verbinden den Komfort eines Hotels mit dem Spaßfaktor eines Ferienressorts mit Wasserrutschen, Animationsprogramm und Abendunterhaltung. Und gleichzeitig bieten sie den Urlauber:innen die abwechslungsreichen Erlebnisse einer Rundreise durch verschiedene Länder. „Kreuzfahrtschiffe sind nicht einfach schwimmende Hotels. Es sind Urlaubserlebnissysteme an Land und auf dem Wasser. Und nur ein sehr geringer Teil des Urlaubs findet wirklich auf dem Schiff statt“, weiß Prof. Papathanassis. Wenn die Reiseveranstalter:innen das berücksichtigen und beispielsweise die Landgänge entsprechend planen, könnten sie die Wirtschaft der Reiseziele deutlich stärken. „Der Tourismussektor birgt großes Entrepreneur- und Beschäftigungspotenzial“, ergänzt der Experte.
Nachhaltigkeit hat mehr Aspekte als nur die Ökologie
Tourismus kann also einen großen Beitrag für das wirtschaftliche Wachstum von postindustriellen und postkommunistischen Ländern leisten. Doch das Reiseverhalten steht auch immer wieder in der Kritik. Besonders Flugreisen und Kreuzfahrten gelten als Treiber des Klimawandels. Laut Prof. Papathanassis werde dies der Branche nicht gerecht. „In der öffentlichen Debatte über die Auswirkungen des Kreuzfahrttourismus geht es meistens um Umweltverschmutzung. Die relativ geringe Größe des Kreuzfahrtsektors und die übermäßige Fokussierung auf Emissionen stellen jedoch die Gesamtauswirkungen und das Potenzial dieses Tourismusbereichs für Hafengemeinden, Wirtschaft und Ökosysteme falsch dar. Die wissenschaftliche Forschung zum Thema Kreuzfahrten bietet ein viel differenzierteres und ganzheitlicheres Bild.“
Nachhaltigkeit in der Tourismusbranche werde laut Prof. Papathanassis häufig nicht umfassend genug gedacht. Ihm ist wichtig zu betonen, dass es mehr als nur ökologische Aspekte gebe und man auch deren Wechselwirkungen miteinander betrachten müsse. Ein Beispiel sei der „2-Millionen-Dollar-Haifisch“. „Es gibt Länder, in denen Haie gejagt und gegessen werden. Das Fleisch ist kaum etwas wert und bringt den Fischern nur etwa 102 Dollar ein. Aber Tourist:innen finden Haie faszinierend und bezahlen dafür, um mit ihnen im Meer tauchen zu dürfen. Wenn die Einheimischen daraus ein Geschäft machen, so bringt ihnen ein Hai im Laufe seines Lebens etwa zwei Millionen Dollar ein. In diesem Fall haben nicht nur die Menschen etwas davon, weil sie mehr Geld verdienen. Auch der Hai profitiert davon, weil er nicht mehr getötet wird“, erklärt Prof. Papathanassis. So könne Tourismus einen positiven Einfluss auf das Reiseland und die dortige Natur haben.
Eine Voraussetzung dafür sei jedoch, dass der Tourismus gesteuert werde. „Im Gegensatz zu den Emissionen der Branche ist Massentourismus tatsächlich ein großes ökologisches Problem. Dieser führt zu erhöhtem Müllaufkommen und Wasserverbrauch in den Urlaubsländern und zerstört im schlimmsten Fall die Natur vor Ort“, sagt Prof. Papathanassis. Er sieht die Reiseunternehmen und Reedereien in der Pflicht, die Kapazitäten des Reiseziels im Blick zu behalten und das Angebot darauf abstimmen. „Tourismus und Nachhaltigkeit sind kein ‚entweder – oder‘. Es gibt einen Win-Win-Raum, der sich nutzen lässt und für ein nachhaltiges Wachstum der Branche sorgen kann.“
Korruption und „Handtuchkriege“
Wenn viele Menschen an einem Ort Urlaub machen, lässt sich in sonnigen Ländern ein Phänomen beobachten, das in den vergangenen Jahren in der Presse als „Handtuchkriege“ bezeichnet wurde. Dabei wandern Menschen in ihrem Urlaub bereits in den frühen Morgenstunden Richtung Pool, um dort mit ihren Handtüchern die besten Liegeplätze zu reservieren. Bereits 2019 hat Alexis Papathanassis zahlreiche Online-Quellen und Nutzer:innenkommentare ausgewertet und Interviews mit 28 Tourist:innen geführt. Das Ergebnis: Viele Urlauber:innen erwarten eine Sonnenliegen-Knappheit und belegen daher Plätze am Pool, bevor ihnen jemand zuvorkommt. „Das kennen wir auch aus der Corona-Pandemie, wo es in den Supermärkten plötzlich kein Toilettenpapier mehr gab, nachdem in den Medien Bilder von leeren Regalen zu sehen waren“, sagt der Forscher.
Tatsächlich sei aber eine andere Form des Kampfs um die besten Liegeplätze am Strand viel brisanter. Professor Alexis Papathanassis hat sich mit dem Geschäft hinter dem Verleih von Sonnenliegen in Gegenden mit hohem touristischen Aufkommen beschäftigt. In seiner Heimat Griechenland gebe es feste Regeln, wie Strände wirtschaftlich genutzt werden dürfen. Fünf Meter müssen zwischen dem Wasser und den vermieteten Sonnenliegen liegen. „So soll sichergestellt werden, dass niemand gezwungen ist, Geld zu bezahlen um am Strand liegen zu dürfen. Strände sind öffentlich und gehören niemandem“, sagt der Wissenschaftler. Liegen zu vermieten, ist für viele Familien das Haupteinkommen. Dafür erwerben sie die Nutzungsrechte für bestimmte Bereiche an den Stränden. Doch seit einigen Jahren sind diese vielerorts in den Händen von Unternehmen statt von Privatpersonen. „Die Nutzungsrechte der Strände werden jedes Jahr versteigert, doch das Anfangsgebot ist inzwischen für viele zu hoch, sodass Unternehmen am Ende den Zuschlag erhalten. Sie verlangen dann von den Menschen, denen die Liegen gehören, Abgaben, damit diese die Strände weiter nutzen und dort Liegeplätze vermieten dürfen.“ Damit erhöhen sich auch die Kosten für die Tourist:innen. Andere Anbieter stellen ihre Liegen illegal in Naturschutzgebieten auf oder platzieren sie zu nah am Wasser. Einheimische mit Handtüchern werden vertrieben. Gegen diese Privatisierung hat sich 2023 eine Protestbewegung entwickelt und erste Erfolge erzielt. Die Strände werden stärker kontrolliert und Verstöße geahndet.
Dies ist nur ein Beispiel, wie sich Massentourismus auch finanziell auf die Einwohner:innen und Tourist:innen auswirken kann. In seiner Forschung hat Prof. Papathanassis sich mit Korruption – dem sogenannten „Yellow Tourism“ – beschäftigt. Der Tourismussektor besteht größtenteils aus einem internationalen Netzwerk voneinander abhängiger kleiner und mittlerer Unternehmen. Die Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien habe dazu beigetragen, dass immer mehr kleine Dienstleistungsunternehmen in der Urlaubsbranche entstanden sind. Häufig sind dies Ein-Personen-Unternehmen, die Unterkünfte, Transportdienste und geführte Touren anbieten. Eine solche Entwicklung behindere unter anderem die Kontrolle und Überwachung von Finanztransaktionen und erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass Tourist:innen Opfer von Betrug, Korruption und ähnlichen Straftaten werden. Dies hat Auswirkungen auf die Außenwahrnehmung des Reiselandes und somit auch auf Bereitschaft von Tourist:innen, dorthin zu reisen. Zusätzlich führe das Ungleichgewicht in der Wertschöpfungskette dazu, dass eine Handvoll Tourismusunternehmen den größten Anteil des Marktes kontrollieren. Einige der meist großen Reiseveranstalter nutzen ihre Größe und ihren Einfluss, um staatliche Subventionen auszunutzen und Unternehmenssteuern zu hinterziehen. „Der Tourismussektor hat mit Geldwäsche, Bestechung und Kriminalität zu kämpfen“, sagt Prof. Papathanassis. Hier sei auch die Politik gefragt, Tourismus mit Unterstützung von Expert:innen stärker zu kontrollieren und zu lenken.
Neue Forschungsansätze könnten Branche nachhaltig verändern
Aktuell durchleben viele Wirtschaftszweige einen Wandel. Gefordert sind beispielsweise mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz sowie neue, modernere Arbeitszeitmodelle. Bei der Frage, wie der Kreuzfahrttourismus sich weiterentwickeln kann, um die Klimaschutzziele 2050 zu erreichen, sieht Prof. Papathanassis auch die Forschung in der Pflicht. Dafür müsse sich aber die Rolle der Forschenden ändern. Sie müssten die Branche aktiv mitgestalten, statt nur die Entwicklung rückblickend zu analysieren. „Wir müssen uns die Frage stellen, wie Kreuzfahrttourismus in der Zukunft aussehen soll. Wie könnte der Sektor die Nachhaltigkeit des Reiselandes fördern? Wie könnten Kreuzfahrten emissionsfrei werden? Und wie ließe sich eine Vier-Tage-Woche an Bord realisieren? Damit würden wir den Fokus auf eine umsetzbare und lösungsorientierte Entwicklung legen“, sagt Prof. Papathanassis. Forschungsergebnisse müssten dafür aber auch perspektivisch in der Praxis realisiert werden können und nicht nur der Veröffentlichung selbst dienen, die die Reputation der Forschenden steigern soll. Dafür sei ein gegenseitiger Wissensaustausch zwischen Forschenden und Praktiker:innen nötig. „Wenn die Forschung mit verschiedenen Interessensgruppen zusammenarbeitet, kann sie einen Aktionsplan entwickeln, der die gewünschte Zukunft gestalten kann“, sagt der Experte. Auf diese Weise könnten alle Beteiligten dazu beitragen, dass die positiven Auswirkungen der Branche überwiegen – nicht nur für die Urlauber:innen, sondern auch für Natur und Mensch in den Reiseländern.